Anwaltliche Berufsausübung im Dienste des Rechtsstaats. Eine grundrechtsdogmatische deutsch-französische Studie

Mai 6, 2024 | Bijus Doc DE

Das Anwaltsrecht ist aus Sicht des Verfassungsrechtlers nicht nur das Recht eines Standes oder einer Profession, sondern Ausformung des Gerichtswesens und auch Recht und Staat als solches finden ihren Spiegel in ihm. Der französische Rechtswissenschaftler Wachsmann hat diesen Befund in der Formulierung zum Ausdruck gebracht, dass „le combat pour les droits de l’homme et celui pour la dignité et l’indépendance de l’avocat se confondent“. Verfassungsordnung und Geltung der Grundrechte stehen also in einem engen wechselseitigen Bezug mit der Freiheit des Rechtsanwalts. Der Einzelne droht ohne eine unabhängige Anwaltschaft seiner Rechte verlustig zu gehen. Zurecht wurde im Gesetzgebungsverfahren zur deutschen BRAO erkannt, dass die Garantie des unabhängigen Richters wertlos sei, wenn niemand anderes, der unabhängig ist, diesen anrufen kann. Diese Erkenntnis geht auf die Herausbildung des Rechtsstaats deutscher Prägung zurück: Der 1888 in den Adelsstand erhobene [v.] Gneist ist prominent für seine Reformbestrebungen bei der gerichtlichen Kontrolle exekutiven Handelns in Er- innerung geblieben, doch die „erste Forderung aller Justizreform“ war für ihn jene zuvor 1867 proklamierte nach der „Freien Advocatur“, denn dabei handele es sich um eine „Vorbedingung des konstitutionellen Verfassungslebens“6. Seine Rechtsstaatskonzeption basiert auf gerichtlicher Kontrolle, denn ohne eine solche Rechtsgarantie verpufft die mit der Einführung von Grundrechten erhoffte Wir- kung sofort. Grundlage ist die Trennung von Staat und Gesellschaft. Der Advokat als Helfer des Bürgers steht im gesellschaftlichen und nicht im staatlichen Lager. Nicht nur ist diese Erkenntnis überkommen, sie ist auch rechtsordnungsübergreifend anerkannt und reicht damit weiter über die deutsche Verfassungs- und Justizgeschichte hinaus: In einer demokratischen Gesellschaft nimmt der Anwalt eine „mission fondamentale“ wahr, wie Victor in den Schlussanträgen vor dem französischen Conseil d’État in einem Verfahren zu steuerrechtlichen Meldepflichten ein- dringlich betonte. Im Fokus der Arbeit soll die Anwaltschaft als Thema des Ver- fassungsrechts stehen. Daneben ist sie aber auch Akteur des Verfassungsrechts. Als der französische Conseil Constitutionnel ab 2010 immer mehr in die Funktion eines veritablen Verfassungsgerichts hineinwuchs, wurde der Einfluss einer qualifizierten Anwaltschaft und engagierter anwaltlicher Vereinigungen auf die Herausbildung eines effektiven Grundrechtsschutz deutlich sichtbar. Die Anwaltschaft ist aber vor allem ein wichtiger Gegenstand des Verfassungsrechts, weil die Regulierung der anwaltlichen Berufsausübung, mag sie an noch so vermeintlich banalen Stellen erfolgen wie dem Gebührenrecht, über die anwaltliche Sphäre hinaus reicht. Sie ist nie neutral im Hinblick auf die Rechtsverfolgung des Einzelnen. Sie kann diese erschweren oder erleichtern. Denn Rechtsanwälte schaffen „Rechtskenntnis, Rechtsbewusstsein und Anspruchswissen“. Wer die Werbemöglichkeiten für Rechtsanwälte restriktiv ausgestaltet, der verhindert Wissensvermittlung und die Wahrnehmung von Chancen, um sein Recht durchzusetzen. Es ist gera- de dieser Einfluss auf die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen, ob er sein Recht durchsetzen will, und die Bedeutung des anwaltlichen Beistands insgesamt, die den verfassungsrechtlichen Sonderstatus des Rechtsanwalts begründet. Dieser Sonderstatus wird geprägt durch ein „institutionelles Arrangement“ von Freiheit und Verantwortung.