von Audrey Eugénie Schlegel, LL.M. wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Französisches Öffentliches Recht (LFOER) der Universität des Saarlandes

vielen Dank an Antoine  de Chanterac für seine Kommentare und Anregungen

 

Der negative Zuständigkeitskonflikt und das Risiko der Rechtsverweigerung

 

Die französische Rechtsordnung sieht zwei Gerichtsbarkeiten vor: der sog. ordre judicaire (Privatgerichtsbarkeit) und der ordre administratif (Verwaltungsgerichtsbarkeit). Die besonderen Gerichtsbarkeiten werden dem einen oder dem anderen ordre zugerechnet: dies wird dadurch deutlich, dass diese Gerichtsbarkeiten entweder der Cour de Cassation (höchster Gerichtshof der Privatgerichtsbarkeit) oder dem Conseil d’État (höchster Gerichtshof der Verwaltungsgerichtsbarkeit) unterworfen sind. So unterstehen etwa die Arbeits-, Sozial- sowie die Familiengerichtsbarkeit der Cour de Cassation, während die (gerichtsähnlichen[1]) Entscheidungen des Conseil de la Concurrence in letzter Instanz vom Conseil d’Etat überprüft werden.

Damit unterscheidet sich das Erscheinungsbild des französischen Gerichtssystems erheblich von demjenigen des deutschen Gerichtssystems, welches sieben Bundesgerichtshöfe vorsieht[2]. Jedoch besteht in der französischen wie in der deutschen Rechtsordnung das Risiko, dass der falsche Rechtsweg eingeschlagen wird. Dafür haben beide Rechtsordnungen sehr unterschiedliche Lösungen parat: gem. § 17a Abs. 2 GVG wird die Unzulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs vom angerufenen Gericht ausgesprochen, welches „zugleich“ den Rechtsstreit an das zuständige Gericht zu verweisen hat[3]. Eine ähnliche Pflicht wird in der französischen Rechtsordnung nur innerhalb der Privatgerichtsbarkeit ausdrücklich festgelegt[4]. Auch in Frankreich wird vom angerufenen Gericht über die Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit des eingeschlagenen Rechtswegs entschieden. Die Zivilprozessordnung erwähnt ausdrücklich die Möglichkeit für den angerufenen Richter, seine Zuständigkeit zu verneinen[5], während die Verwaltungsprozessordnung nur eine Liste der Zuständigkeiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit beinhaltet[6]. Aus dieser Liste ist in Verbindung mit dem Grundsatz der Trennung der Privat- und Zivilgerichtsbarkeiten[7], ein Grundsatz mit Verfassungsrang, eine Pflicht des Verwaltungsrichters zur Beachtung dieser Kompetenzabgrenzung, unter Umständen durch die Verneinung seiner Zuständigkeit, zu folgern. Allerdings wurde im Gegensatz zum deutschen Recht kein Verweisungssystem für die Fälle der Verneinung seiner Zuständigkeit durch eine französische Gerichtsbarkeit vorgesehen: es obliegt den Parteien, die andere Gerichtsbarkeit anzurufen.

In Deutschland[8] wie in Frankreich[9] wird die Frage der Zuständigkeit als eine Plage des Verfahrens(rechts) angesehen. Nicht zuletzt deswegen, weil in beiden Rechtsordnungen sog. negative Zuständigkeitskonflikte (conflits de compétence négatifs) entstehen können. Unter diesem Begriff werden alle Fälle gefasst, in denen sich die Gerichte bzw. Gerichtshöfe beider Gerichtsbarkeiten für unzuständig erklärt haben. Hier steht das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter auf dem Spiel[10], das verfassungsgeschützte Recht auf einen wirksamen Gerichtschutz (droit à un recours juridictionnel effectif[11]). Es geht also um die tatsächliche Gewährleistung der Justiz.

Zur Lösung dieser Konflikte haben die deutschen und französischen Rechtsordnungen unterschiedliche Lösungen parat. In Deutschland darf gem. § 17a Abs. 4 S. 2 GVG die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss erhoben werden, in welchem sich das Gericht für unzuständig erklärt und die Rechtssache an die andere Gerichtsbarkeit verwiesen hat. Das deutsche Verwaltungsrecht sieht eine spezifische Lösung vor: in entsprechender Anwendung des § 53 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 VwGO werden negative Kompetenzkonflikte vom Bundesverwaltungsgericht entschieden[12]. Negative Kompetenzkonflikte werden also innerhalb einer Gerichtsbarkeit entschieden. Das französische Recht hingegen sieht eine spezifische Institution zur Lösung (negativer) Kompetenzkonflikte vor: das sog. Tribunal des conflits. Dieses gemischte Gericht (tribunal) ist mit drei Richtern aus der Cour de Cassation sowie drei Richtern aus dem Conseil d’Etat besetzt, hinzu kommen noch zwei von ihnen gewählte Mitglieder (art. 24 des Gesetzes vom 24. Mai 1872[13]). Der Justizminister übernimmt das Amt des Präsidenten des Tribunal des conflits (Art. 1 des Gesetzes des 4. Februar 1850)[14].

Im Folgenden soll zunächst auf die Bedeutung des Tribunal des conflits für die effektive Gewährleistung der Justiz im Allgemeinen eingegangen werden (I), anschließend soll das Verfahren zur Lösung negativer Kompetenzkonflikte erläutert werden (II).

 I. Die Bedeutung des Tribunal des conflits für die französische Justiz

Zunächst soll ein geschichtlicher Rückblick erfolgen (A), anschließend eine Darstellung der verschiedenen Zuständigkeiten des Tribunal des conflits (B), und zuletzt eine Erläuterung und Wertung der jüngeren Vorschläge zur Reform dieser Institution (C).

      A. (Vor)Geschichte des Tribunal des conflits

Das Tribunal des conflits wurde im Jahre 1848 im Art. 89 der Verfassung der Zweiten Republik zur Regelung der „Konflikte über die Kompetenzverteilung der Gerichtsbarkeiten“ („conflits d’attribution“) gegründet. Näheres wurde durch das Dekret vom 26. Oktober 1849[15] und das Gesetz vom 4. Februar 1850[16] geregelt, beide noch heute gültige Normen. Jedoch wurde das Tribunal des conflits für die Gesamtdauer des sog. Second Empire (zweites Kaiserreich, 1852-1870) abgeschafft, und unter der Dritten Republik durch Gesetz vom 24. Mai 1872[17] als Begleitmaßnahme zum Aufstieg des Conseil d’Etat erneut ins Leben gerufen,. Denn die Teilung der Verwaltungs- und Privatgerichtsbarkeiten sind auf den Art. 13 des Gesetzes vom 16. und 24. August 1790[18] zurückzuführen: damals war aber noch nicht die Rede von einer Verwaltungsgerichtsbarkeit im eigentlichen Sinne, sondern von einem „Verwaltungshoheitsträger“ (autorité administrative). In der Tat übte der Conseil d’Etat seine Tätigkeit zur Regelung von Verwaltungsstreitigkeiten unter der Aufsicht der Regierung aus, wobei er nicht als Gerichtshof konzipiert worden war [19]. Dabei traf der Conseil d’Etat auch die Entscheidung über die Zuweisung eines bestimmten Rechtsstreites an die Privatgerichtsbarkeit (sollte der Rechtstreit nicht verwiesen worden sein, wurde er vom Conseil d’Etat selbst zur Entscheidung angenommen). Erst mit dem Gesetz vom Jahre 1872 wurde den Richtern des Conseil d’Etat gestattet, ihre Gerichtstätigkeit in voller Unabhängigkeit auszuüben: die Verwaltungsgerichtsbarkeit war entstanden. Wäre die Entscheidungsbefugnis über die Zuweisung eines Rechtsstreites zur einen oder anderen Gerichtsbarkeit weiterhin beim Conseil d’Etat verblieben, hätte dies den Vorwurf der Befangenheit zugunsten der Verwaltungsgerichtsbarkeit gerechtfertigt[20]. Das Tribunal des conflits wurde also erneut ins Leben gerufen, um den Conseil d’Etat von dieser Aufgabe zu befreien.

Der Zuständigkeitsbereich des Tribunal des conflits wurde durch Gesetz vom 20. April 1932[21] um die Zuständigkeit für sog. Urteilskonflikte (conflits de décisions oder contrariétés de jugements), d.h. den Fall, in welchem beide Gerichtsbarkeiten über denselben Rechtstreit und über dieselbe Rechtsfrage ein unterschiedliches Urteil fällen[22], erweitert. Der Art. 6 des Dekrets des 25. Juli 1960[23], welcher das Dekret von 1849 änderte, erweiterte ferner seinen Aufgabenkreis um die Zuständigkeit für Vorabentscheidungsersuchen zur Regelung von Kompetenzkonflikten.

      B. Aufgaben

Heute setzen sich die Aufgaben des Tribunal des conflits wie folgt zusammen:

–       positive Kompetenzkonflikte der Art. 12 ff. des Dekrets vom 26. Oktober 1849 (conflits positifs d’attribution). Mit der Regierungsverordnung („ordonnance“) des 1. Juni 1828[24] wurde eine Institutionalisierung solcher Konflikte bereits vor der Gründung des Tribunal des conflits vorgenommen. Am Titel dieser Regierungsverordnung („über Kompetenzkonflikte zwischen dem staatlichen Hoheitsträger und den (Privat)gerichten[25]“) wird bereits deutlich, dass diese Art von Konflikt nicht zwischen den beiden Gerichtsbarkeiten entsteht, sondern zwischen der Privatgerichtsbarkeit und dem Staat als Hoheitsträger[26]. Es handelt sich um den Fall, in welchem ein Rechtsträger den Staat vor der Privatgerichtsbarkeit verklagt. Denn aus dem Grundsatz der Trennung der Verwaltungs- und Privatgerichtsbarkeit geht ein Jurisdiktionsprivileg zugunsten des Staates hervor[27]: beim positiven Kompetenzkonflikt geht es darum, dieses Privileg vor der Privatgerichtsbarkeit zu schützen[28]. Dieser Schutz wird dadurch gewährleistet, dass dem Vertreter der agierenden Behörde das Recht eingeräumt wird, die Staatsanwaltschaft mit einem sog. déclinatoire de compétence zu befassen, d.h. einem Schriftsatz, in welchem die Staatsanwaltschaft aufgefordert wird, zugunsten der Verneinung der Zuständigkeit der Privatgerichtsbarkeit zu plädieren (art. 6 der Regierungsverordnung des 1. Juni 1828). Sollte die Staatsanwaltschaft oder der zur Entscheidung berufene Richter dieser Aufforderung nicht Folge leisten, kann der Vertreter einen sog. arrêté de conflit (Konfliktbeschluss) erlassen, in welchem das Tribunal des conflits mit der Frage der zuständigen Gerichtsbarkeit befasst wird. Die von der Privatgerichtsbarkeit gefällte Entscheidung wird rechtskräftig, wenn der Vertreter davon absieht. Wird die Zuständigkeit der Privatgerichtsbarkeit vom Tribunal des conflits verneint, wird die von dieser Gerichtsbarkeit gefällte Entscheidung ungültig[29] – es obliegt dem ursprünglichen Anspruchsteller, die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit dem Rechtsstreit zu befassen. Andernfalls wird diese Entscheidung rechtskräftig.

–       negative Kompetenzkonflikte (Art. 17 ff.). Hier handelt es sich um einen „echten“ Konflikt zwischen den beiden Gerichtsbarkeiten in den Fällen, in welchen beide Gerichtsbarkeiten nacheinander ihre Zuständigkeit verneint haben. Hier erfolgt keine Verweisung, und die Entscheidung wird den Parteien überlassen, ob sie den Streit dahinstehen lassen, oder ob sie das Tribunal des conflits um eine Entscheidung darüber ersuchen, welche Gerichtsbarkeit über den Rechtsstreit zu befinden hat (Art. 17 S. 1 des Dekrets von 1848). Auch nachdem ein Beschluss zur Regelung dieser Frage vom Tribunal des conflits erging, hängt von den Parteien ab, ob der Rechtstreit erneut bei der designierten Gerichtsbarkeit anhängig gemacht wird.

–       Vorabentscheidungsersuchen zur Prävention eines negativen Kompetenzkonfliktes (Art. 34, 36 ff.). Dieses Verfahren ermöglicht der Gerichtsbarkeit, welche erst zur Entscheidung berufen wurde, nachdem die andere bereits ihre eigene Zuständigkeit verneint hatte, das Tribunal des conflits um eine Vorabentscheidung über die zuständige Gerichtsbarkeit zu ersuchen. Im Gegensatz zu den Vorschriften bezüglich der sonstigen Verfahrensarten wird ausdrücklich festgelegt, dass der Antwortbeschluss des Tribunal des conflits für beide Gerichtsbarkeiten bindend wird (Art. 39): die designierte Gerichtsbarkeit darf nicht mehr ihre eigene Zuständigkeit verneinen, die ausgeschlossene darf nicht mehr ihre bejahen. Wenn die ersuchende Gerichtsbarkeit sich nach dem Erlass des ihrer Zuständigkeit ablehnenden Beschlusses für unzuständig erklärt, obliegt es allerdings auch den Parteien, die Rechtssache bei der anderen anhängig zu machen.

–       Urteilskonflikte (Gesetz des 20. April 1932). Das Urteilskonfliktsverfahren besteht laut Art. 1 des Gesetzes darin, dass in Konflikt stehende Entscheidungen beider Gerichtsbarkeiten zum selben Rechtsstreit („litige“) und selben Gegenstand („objet“) dem Tribunal des conflits vorgelegt werden. Auch hier ist der Antrieb der Parteien maßgebend (Art. 3 des Gesetzes i.V.m. Art. 17 des Dekrets von 1849). Dies ist die einzige Konstellation, in welcher das Tribunal des conflits als eine Art „vierte Instanz“ auftritt: hier tritt es nicht als Schiedsrichter auf, um den Rechtsstreit an eine der beiden Gerichtsbarkeiten zu verweisen, sondern entscheidet selbst in der Sache (Art. 4 des Gesetzes)[30]. Allerdings ist die Erschöpfung des Rechtswegs innerhalb einer (oder beider) Gerichtsbarkeit(en) keineswegs eine Zulässigkeitsvoraussetzung: das Tribunal des conflits darf angerufen werden, auch wenn der Konflikt sich nur auf erstinstanzliche Urteile bezieht.

      C. Refomvorschläge

Wie bereits erwähnt, wird die Rolle des Präsidenten des Tribunal des conflits vom Justizminister übernommen. Nach gängiger Praxis wird allerdings dieser nur bei Stimmengleichheit an der Entscheidung beteiligt[31]. Solche Fälle tauchen aber insgesamt nur elfmal in der Gesamtgeschichte des Tribunal des conflits auf[32]. Eine solche Praxis widerspricht allerdings den Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit und Unbefangenheit[33], sogar dem grundlegenden[34] demokratischen Prinzip der Gewaltenteilung[35]. Aus diesem Grund wurde in einem offiziellen Reformbericht die Abschaffung dieser Rolle des Justizministers vorgeschlagen[36]. Der (von den Mitgliedern des Tribunal gewählte) Vizepräsident solle in der Zukunft diese Rolle übernehmen, und somit zum Präsidenten erstarken[37]. Der aktuelle Gesetzesentwurf sieht aber eine rotierende Präsidentschaft zwischen den aus der Cour de Cassation und aus dem Conseil d’Etat stammenden Mitgliedern vor (art. 7)[38]. Damit würde aber die Mitgliederzahl des Tribunal des conflits auf 8 schrumpfen: wie soll also in der Zukunft bei Stimmengleichheit verfahren werden? Im Bericht wurde die Einberufung einer erweiterten Richterbank mit vier zusätzlichen Richtern (zur Hälfte aus der Cour de Cassation, zur Hälfte aus dem Conseil d’Etat stammend) vorgeschlagen, sollten sich die acht ständigen Mitglieder nach zwei Abstimmungen nicht geeinigt haben[39].

Dieser Vorschlag hat Einzug im Art. 7 des Reformgesetzesentwurfs[40] gehalten, welcher gegenwärtig im Parlament debattiert wird[41].

II. Das Tribunal des conflits: ein Instrument zur Lösung von negativen Zuständigkeitskonflikten

Die Verfahrensordnung des Tribunal des conflits sieht zwei Verfahren zur Regelung negativer Kompetenzkonflikte vor, deren respektive Voraussetzungen beide im Lichte eines Pragmatismus-Grundsatzes ausgelegt werden (A). Ferner wurden Vorschläge für die Hinzufügung eines Vorabentscheidungsverfahrens zu den Zuständigkeiten des Tribunal des conflits formuliert (B).

      A. Pragmatismus: das neue Leitmotiv des Tribunal des conflits ?

Das erste Verfahren zur Regelung negativer Kompetenzkonflikte beruht auf dem Antrieb der Parteien: es handelt sich um die von Art. 17 des Dekrets von 1849 eröffnete Möglichkeit, dem Tribunal des conflits die Rechtsstreitigkeiten vorzulegen, in welchen beide Gerichtsbarkeiten ihre respektive Zuständigkeit verneint haben. Das andere in Art. 34 des Dekrets vorgesehene Verfahren soll der Prävention solcher negativen Kompetenzkonflikte dienen. nämlich durch die Möglichkeit, für die Richter beider Gerichtsbarkeiten das Tribunal des conflits mit der Frage der zuständigen Gerichtsbarkeit zu befassen, sollte die andere bereits ihre eigene Zuständigkeit verneint haben.

Eine der Zulässigkeitsvoraussetzungen dieser Verfahren besteht darin, dass beide Gerichtsbarkeiten mit derselben „Frage“ („question“, Art. 17) bzw. mit demselben „Rechtstreit“ („litige“, Art. 34) befasst worden sind. Beide Begriffe werden in der ständigen Rechtsprechung des Tribunal gleich gesetzt[42], und dementsprechend gleich ausgelegt: dieselbe Frage bzw. derselbe Rechtstreit liegt vor, soweit die Fragen mit welchen beide Gerichtsbarkeiten befasst wurden, zum selben Gegenstand (objet) und mit derselben Rechtsgrundlage (fondement) gestellt worden sind[43].

Diese Voraussetzungen werden aber weit ausgelegt: 1999 fand z.B. das Tribunal, dass das Bestreiten der Entstehung eines vertraglichen Anspruchs zugunsten der Region vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der vor der Privatgerichtsbarkeit gestellte Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit des betreffenden Vertrags zum selben Rechtstreit gehörten[44]. Nach Meinung eines Commissaire du gouvernement („Regierungskommissars“, also Staatsanwalts), wie in seinen Schlussanträgen vertreten[45], ist diese weite Auslegung durch einen aus Sicht des Anspruchsstellers einheitlichen Zweck zu rechtfertigen: der Zweck bleibt derselbe, die Wege hierzu unterscheiden sich aber in rechtlicher Hinsicht[46].

Jedoch soll der fondement auch derselbe sein: diesem Begriff kommt eine breitere Bedeutung zu, als was die Übersetzung durch ‚Rechtsgrundlage’ auszudrücken vermag. Im Fall von 1999 hatte der Antragsteller sich in den beiden Fällen um die Feststellung der Nichtexistenz eines gewissen vertraglichen Anspruchs bemüht: zu diesem Zweck wird vor der einen Gerichtsbarkeit zugunsten der Nichtentstehung des Anspruchs, vor der anderen zugunsten der Nichtigkeit des Vertrags, welche die Nichtexistenz des Anspruchs selbst auch zur Folge hätte, argumentiert. Würde z.B. ein Anspruchssteller vor der einen Gerichtsbarkeit Ansprüche aus vertraglicher Haftung, vor der anderen Gerichtsbarkeit aus außervertraglicher Haftung bzw. Deliktsrecht geltend machen, wären die Anträge nicht auf denselben fondement gestützt[47]. Insofern wären auch beide Entscheidungen nicht als in Konflikt stehend anzusehen. Denn wären vor ihr Ansprüche aus der außervertraglichen Haftung des Staates geltend gemacht worden, müsste die Privatgerichtsbarkeit in einem solchen Fall ihre Zuständigkeit verneinen: Ansprüche aus Staatshaftung können ja grds. nur vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit geltend gemacht werden[48]. Allerdings steht einer Geltendmachung vertraglicher Ansprüche aus einem mit dem Staat abgeschlossenen Vertrag vor der Privatgerichtsbarkeit in den meisten Fällen nichts entgegen – damit sind solche Ansprüche vom Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgenommen. Die Letztere kann also ihre Zuständigkeit im Bereich vertraglicher Ansprüche verneinen, ohne dass eine solche Entscheidung im Widerspruch zu einer Entscheidung der Ersteren stünde, in welcher diese ihre Zuständigkeit für Ansprüche aus Staatshaftung verneint hätte.

Dies würde allerdings dazu führen, dass der (schlecht beratene) Rechtssuchende, welcher seine Ansprüche vor den unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten auf unterschiedliche fondements gestützt hat, ein drittes Mal sein Glück bei einer Gerichtsbarkeit mit dem vor ihr noch nicht geltend gemachten fondement suchen müssen. Dies würde eindeutig zu einer erheblichen Verlängerung der Gerichtsverfahren führen (wobei ‚Verfahren’ hier im weiten Sinne zu verstehen ist), obwohl die Reduzierung der Verfahrensdauer ein ständiges Anliegen des französischen Rechtssystems bildet[49]. Die Überlastung der Gerichte stellt eine weitere andauernde Sorge dar[50], und die oben beschriebene Lösung würde eine Häufung anhängiger Rechtssachen zur Folge haben.

Aus diesen Gründen appellierte der Commissaire du gouvernement an den Pragmatismus des Tribunal des conflits[51], welcher seiner Meinung nach bereits in mehreren Entscheidungen des Letzteren zu spüren sei[52]. Er wollte das Tribunal damit zu mehr „Flexibilität“[53] animieren – hin zum Wegfall der Voraussetzung des einen und selben fondements. Diese Voraussetzung sei bereits auf dem Weg der „Verdunstung“[54]. Zumindest wurde ihm in dieser Rechtssache gefolgt[55].

     B. Reformvorschläge: hin zu einer Vorabentscheidungsfrage?

Gegenwärtig bestehen nur zwei Verfahren zur Lösung negativer Kompetenzkonflikte: die eben beschriebene Anrufung des Tribunal des conflits durch die Parteien selbst, nachdem beide Gerichtsbarkeiten sich für unzuständig erklärt haben (Art. 17 des Dekrets von 1849), sowie die Anrufung durch ein Gericht, welches Zweifel an der Zuständigkeit der eigenen Gerichtsbarkeit hegt, obwohl die andere Gerichtsbarkeit ihre Zuständigkeit bereits verneint hat (Art. 34).

Hinzu besteht noch für den höchsten Gerichtshof jeder Gerichtsbarkeit die Möglichkeit, den Tribunal des conflits beim Vorliegen einer „Kompetenzfrage, welche eine erhebliche Schwierigkeit darstellt und die Trennung der Verwaltungs- und der Privatgerichtsbarkeiten gefährdet[56]“ anzurufen (Art. 35 des Dekrets des 26. Oktober 1849). Im Vergleich zum Verfahren des Art. 34 entfällt also die Voraussetzung einer vorherigen Feststellung der eigenen Unzuständigkeit durch die andere Gerichtsbarkeit: es handelt sich um eine Vorabentscheidungsfrage. Im Reformbericht wurde die Erweiterung des Kreises der zur Vorlage einer solchen Frage befugten Gerichte auf alle Gerichte beider Gerichtsbarkeiten vorgeschlagen[57]. Somit würde das Verfahren des Art. 34 hinfällig werden, da es sich bei dieser Vorschrift nur um eine zusätzliche Voraussetzung des im Art. 35 vorgesehenen Verfahrens handelt, die nach diesem Vorschlag entfallen soll. Jedoch wird im Bericht die Aufhebung des Art. 34 nicht vorgesehen, im Gegenteil. Der Bericht liest sich, als ob er gar seinen Bestand ohne Änderungen empfähle[58].

Dieser Vorschlag hielt in den von der Regierung vorgeschlagenen Gesetzesentwurf Einzug [59]. Ob es aber tatsächlich zu einer solchen Reform kommt erscheint fraglich, denn die betroffenen Bestimmungen des Gesetzesentwurfs sehen nicht diese Erweiterung selbst vor: sie bestehen in der Erteilung einer Ermächtigung an die Regierung, zur „Erweiterung des Aufgabenkreises des Tribunal des conflits mit dem Ziel, für die Zukunft eine bessere Lösung von Kompetenzkonflikten zu ermöglichen“[60]. Damit wird nicht ausdrücklich der Regierung die Aufgabe erteilt, eine solche Änderung des bestehenden Verfahrens einzuführen. Da die Regierung hingegen ausdrücklich mit der Einführung eines Verfahrens zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen wegen unzulässiger Verfahrenslänge beauftragt wurde[61], darf gefolgert werden, dass die Aufhebung dieser Voraussetzung einer vorherigen Entscheidung der anderen Gerichtsbarkeit im Ermessen der Regierung liegt.

[1] Vgl. dazu den parlamentarischen Bericht Nr. 3166 (Assemblée nationale)/ Nr. 404 (Sénat): Office parlementaire d’évaluation de la législation (Sénateur P. GÉLARD), Rapport sur les autorités administratives indépendantes, Bd. 2 (Annexes), Kapitel IV, Punkt 5.

[2] Die fünf in Art. 95 Abs. 1 GG erwähnten Bundesgerichtshöfe, sowie das auf der Grundlage des Art. 96 Abs. 1 GG gegründeten Bundespatentgericht, und das BVerfG (welches auch als einen „Gerichtshof des Bundes“ gem. §1 Abs. 1 BVerfGG anzusehen ist“- vgl. hierzu Morgenthaler in Epping/Hilgruber, BeckOK GG, 2014, Art. 93 Rn. 4). (aus dem Wortlaut des Art. 92 ergibt sich, dass das Bundesverfassungsgericht kein Bundesgerichtshof in dem eigentlichen Sinne ist).

[3] Vgl. WALINE J., Droit administratif, 22ème éd., 2008, §17, Rn. 50.

[4] Art. 96 Code de Procédure civile.

[5] S. art. 49, 50 im Code de Procédure Civile.

[6] Art. L. 111-1 (für den Conseil d’Etat) sowie L. 211-1 bis L. 211-4 (für die sonstigen Gerichte) des Code de Justice administrative.

[7] Vgl. Conseil Constitutionnel, „Lois de validation“, 22.07.1990, Nr. 89-119 DC; „Conseil de la Concurrence“, 23.01.1987, Nr. 86-224 DC.

[8] Kissel/Mayer, GVG-Kommentar, 7. Aufl. 2013, § 17, Rn. 1 („Erbübel des deutschen Prozesses“).

[9] Fn. 3, S. 530, Rn. 551 (« importance anormale »).

[10] Vgl. Fn. 3, § 17, Rn. 3.

[11] Conseil Constitutionnel, Loi organique portant statut d’autonomie de la Polynésie française, Nr. 96-373 DC, 9.04.1996; Loi portant création d’une couverture maladie universelle, Nr. 99-416 DC, 23.07.1999.

[12] Vgl. etwa BVerwG, VG 4 K 3021/12, 31.01.2013, Rn. 3.

[13] Loi du 24.05.1872 portant réorganisation du Conseil d’Etat.

[14] Loi du 8 février 1850 portant sur l’organisation du Tribunal des conflits.

[15] Décret du 26 octobre 1849 portant règlement d’administration publique déterminant les formes de procédure du Tribunal des conflits.

[16] Loi du 4.02.1850 portant sur l’organisation du Tribunal des conflits.

[17] S. Fn. 13.

[18] Loi du 16 et 24 août 1790.

[19] Mehr dazu in: Fn. 3, S. 566, Rn. 588.

[20] Vgl. Fn. 3, S. 519, Rn. 536.

[21] Loi du 20 avril 1932 ouvrant un recours devant le Tribunal des conflits contre les décisions définitives rendues par les tribunaux judiciaires et les tribunaux administratifs lorsqu’elles présentent contrariété aboutissant à un déni de justice.

[22] Vgl. Fn. 3, S. 528, Rn. 548.

[23] Décret n°60-728 du 25 juillet 1960 portant réforme des procédures des conflits d’attributions.

[24] Mit der Ordonnance du 1er juin 1828 relative aux conflits d’attribution entre les tribunaux et l’autorité administrative.

[25] Damals existierten noch nicht die Verwaltungsgerichte, so dass der Begriff „tribunal“ („Gericht“) sich nur auf die Gerichte der Privatgerichtsbarkeit beziehen konnte.

[26] S. TIFINE P., Droit administratif français, 2014, Partie 3, chap. 1, Sect. 1, §1, I ; Fn. 3, S. 521, Rn. 340.

[27] S. Fn. 3, S. 517 und f., Rn. 535.

[28] S. Fn. 3, S. 521, Rn. 540.

[29] Dass es sich bei der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts um eine Zulässigkeitsvoraussetzung handelt, ergibt sich aus Art. 73 bis 74 des Code de Procédure civile.

[30] S. dazu Fn. 26, Kapitel 2, Sect. I, § II. Abrufbar unter: http://www.revuegeneraledudroit.eu/blog/2013/08/15/droit-administratif-francais-troisieme-partie-chapitre-2/#chapitre-deux-–compétence-de-la-juridiction-administrative (zuletzt aufgerufen am 23.07.2014).

[31] S. Rapport du groupe de travail sur le Tribunal des conflits, Sept. 2013, S. 4.

[32] Der Entwurf ist abrufbar unter: http://www.assemblee-nationale.fr/14/projets/pl1729.asp (zuletzt aufgerufen am 23.07.2014).

[33] Ibid.

[34] Die frz. Erklärung der Bürger- und Menschenrechte von 1789 behauptet sogar in ihrem Art. 16, dass eine Gesellschaft ohne Gewaltenteilung als ohne Verfassung anzusehen ist (ein Dokument mit Verfassungsrang, seit Conseil Constitutionnel, Loi d’association, 16.07.1971, Nr. 71-44 DC.

[35] Vgl. Interview des Vizepräsidenten des Tribunal des conflits J.-L. GALLET, 15.11.2013, auf dalloz-étudiant. Abrufbar unter http://actu.dalloz-etudiant.fr/focus-sur/article/la-reforme-du-tribunal-des-conflits//h/f1e901b932041e48cb35ac758c86eae2.html (zuletzt aufgerufen am 23.07.2014).

[36] Fn. 31, S. 6.

[37] Fn. 31, S. 6.

[38] Fn. 32.

[39] Fn. 31, S. 8.

[40] Fn. 32.

[41] Mehr zum Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens unter: http://www.assemblee-nationale.fr/14/dossiers/simplification_droit_justice_affaires_interieures.asp (zuletzt aufgerufen am 23.07.2014).

[42] S. die Schlussanträge (conclusions) des Regierungskommissars (commissaire du gouvernment) B. DACOSTA in Tribunal des conflits, Département du Nord, Sitzung am 7.04.2013 (Entscheidungsverkündung am 19.05.2013), Nr. 3942, S. 1. Abrufbar unter: http://www.tribunal-conflits.fr/PDF/3942_Conclusion_conclusions_tc_3942.pdf (zuletzt aufgerufen am 23.07.2014).

[43] Ibid.

[44] Tribunal des conflits, Dettling/ Conseil Régional de la Région Centre et Conseil Général du Centre, 07.06.1999, 99-03.110.

[45] S. Fn. 42.

[46] S. Fn. 42, S. 2.

[47] S. Fn. 42, S. 2.

[48] Mehr dazu in : Fn. 3, S. 540, Rn. 562.

[49] Und dies auch vor dem Tribunal des conflits: vgl. die Gesetzbegründung im Entwurf Nr. 175, 27.11.2013, des Sénat für ein Reformgesetz über den Tribunal. Abrufbar unter: http://www.senat.fr/leg/pjl13-175.html (zuletzt aufgerufen am 23.07.2014).

[50] Vgl. C. GIRAULT, „Encombrement des juridictions criminelles: chronique d’une réforme annoncée?“, in Dalloz Actualités, am 14.02.2012 (nicht nur zum Strafrecht).

[51] Fn. 42, S. 2.

[52] Fn. 42, S. 3.

[53] Fn. 42, S. 2.

[54] „en voie d’évaporation“: Fn. 42, S. 3.

[55] Vgl. Tribunal des conflits, Département du Nord/ consorts M. et autres, 19.05.2014, Nr. 3942.

[56] « une question de compétence soulevant une difficulté sérieuse et mettant en jeu la séparation des autorités administratives et judiciaires ».

[57] S. Fn. 31, S. 10.

[58] Ibid.

[59] S. MOHANED SOILHI T., Rapport Nr. 288 au nom de la commission des lois, am 15. Januar 2014 dem Sénat vorgelegt, S. 26. Abrufbar unter : http://www.senat.fr/rap/l13-288/l13-288.html (zuletzt aufgerufen am 28.07.2014).

[60] Art. 7, 2° des Gesetzesentwurfs Nr. JUSX1326670L (Stand: 28.07.2014).

[61] Ibid.