von Audrey Eugénie Schlegel, LL.M. wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Französisches Öffentliches Recht (LFOER) der Universität des Saarlandes

 

  • Conseil d’Etat, 28.06.2013, Association Trinationale de Protection Nucléaire (ATPN), AZ. 351986

Am 28. Juni 2013 traf der französische Verwaltungsrat (Conseil d’Etat) das letzte Urteil über das Schicksal des unmittelbar an der deutschen Grenze gelegenen Atomkraftwerkes (AKW) Fessenheim:, mangels gravierender und unmittelbar bevorstehender Gefahren („risques graves et imminents“), welche sein (vorläufiges) Ausschalten rechtfertigen würden, darf das AKW am Netz bleiben

Fessenheim ist das älteste AKW Frankreich und zieht eine lange Geschichte an gerichtlichen Auseinandersetzungen hinter sich, vom (erfolglosen) Widerspruch gegen das Dekret des 3. Februar 1972 beginnend, welches die Errichtung des AKW beschloss, bis zum hier vorgestellten Urteil des 28. Juni 2013. Inzwischen ist auch mehrmals seitens Umweltschutzverbänden versucht worden, das Ausschalten des AKW auf dem gerichtlichen Weg zu erwirken.

Im vorliegenden Fall hatten mehrere Vereine, darunter der in Frankreich, Deutschland und der Schweiz aktive Trinationaler Atomschutzverband-TRAS (Association Trinationale de Protection Nucléaire-ATPN) die Behörde für Atomsicherheit (Autorité de sécurité nucléaire) sowie die Wirtschafts-, Umwelt- und Industrieminister mit einem Antrag auf vollständiges und sofortiges Ausschalten des AKW ersucht.  Dieser Antrag wurde aber durch stillschweigende Entscheidung abgelehnt (décision implicite de rejet). Unter „stillschweigender Ablehnungsentscheidung“ ist im französischen Verwaltungsrecht eine Entscheidung einer Verwaltungsbehörde zu verstehen, welche darin zu sehen ist, dass die ersuchte Behörde nach Eingang eines Antrags innerhalb einer gesetzlichen oder durch Dekret festgelegten Frist nicht reagiert. Widerspruch darf gegen eine solche stillschweigende Ablehnungsentscheidung vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit erhoben werden.

Die Beschwerdeführer hatten, jeweils im Eilverfahren (procédure de référé), Anträge auf Nichtigkeitserklärung der Entscheidung der Behörde für Atomsicherheit beim Verwaltungsgericht (Tribunal administratif) von Straßburg sowie der Ministerialentscheidungen beim Verwaltungsgericht von Paris gestellt. Der Weg des Eilverfahrens war aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Gefahren, welche die Schließung des AKW abwenden sollte, eröffnet.

Die Anträge wurden von beiden Verwaltungsgerichten abgelehnt. Die Beschwerdeführer legten anschließend beim Verwaltungsrat Berufung gegen beide Entscheidungen ein: im Rahmen des Eilverfahrens findet keine zweite (Berufungs)Instanz vor den Verwaltungsgerichtshöfen (cours administratives d’appel) statt. Der Weg zum höchsten französischen Verwaltungsgericht ist stattdessen unmittelbar nach der Verkündung eines Urteils erster Instanz geöffnet Der Verwaltungsrat entschied sich, beide Rechtssachen (Berufungsverfahren gegen das Urteil des Straßburger Verwaltungsgerichts und Berufungsverfahren gegen das Urteil des Pariser Verwaltungsgerichts) zu verbinden.

Die eben genannten Minister wären für den Erlass einer Ausschaltungsentscheidung aufgrund des Art. L. 593-21 des Umweltgesetzbuches (Code de l’environnement) zuständig gewesen, welcher sie dazu ermächtigt, beim Vorliegen gravierender Gefahren für die im Art. L. 593-1 desselben Gesetzbuches aufgezählten Interessen (öffentliche Sicherheit, Gesundheit und Hygiene), den Betrieb eines AKW für den zur Beseitigung dieser Gefahren erforderlichen Zeitraum zu suspendieren. Art. L. 593-22 desselben Gesetzbuches ermächtigt die Behörde für Atomsicherheit dazu, beim Vorliegen  gravierender und bevorstehender Gefahren den Betrieb eines AKW vorübergehend selbst  zu untersagen, bis zu einer Regierungsentscheidung über das künftige Schicksal des betroffenen AKW. Der Verwaltungsrat geht davon aus, dass sofern die Voraussetzungen für eine rechtmäßige Suspendierungsentscheidung der Behörde vorliegen (insb. diejenige einer gravierenden und unmittelbar bevorstehenden Gefahr), a fortiori diejenigen für eine Ministerialentscheidung („gravierende Gefahr“) erfüllt sind.

Obwohl die betreffenden Regelungen nur zur vorübergehenden Ausschaltung eines AKW ermächtigen, haben sich die Beschwerdeführer auch vor dem Verwaltungsrat dafür entschieden, die vollständige und sofortige Ausschaltung des AKW („suspension immédiate et complète“) zu beantragen.

Vor dem Verwaltungsrat wurden einerseits Argumente bezüglich der sog. externen Rechtsmäßigkeit (moyens de légalité externe), d.h. bezüglich Verfahren und Form der angefochtenen Entscheidung, geltend gemacht (A.), andererseits bezüglich ihrer sog. internen Rechtsmäßigkeit (moyens de légalité interne), d.h. ihrer Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht (B.).

A. Externe Rechtsmäßigkeit

Hinsichtlich der externen Rechtsmäßigkeit rügten die Beschwerdeführer zunächst die Verfassungswidrigkeit der Art. L. 593-7 bis L. 593-11 des Umweltgesetzbuchs, welche als Rechtsgrundlage für die beiden vor dem Verwaltungsrat widersprochenen Entscheidungen anzusehen sind (I.): sollte ihre Rechtsgrundlage entfallen, wären die darauf gestützten Entscheidungen rechtswidrig ergangen und dementsprechend für nichtig zu erklären. Die Verfassungsmäßigkeit der eben genannten Vorschriften wollten die Beschwerdeführer im Wege der Verfassungsvorabentscheidungsfrage überprüfen lassen. Dabei legen die Zivil- oder Verwaltungsgerichte, darunter auch der Verwaltungsrat, dem Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) gesetzliche Vorschriften zur Überprüfung ihrer Vereinbarkeit mit den französischen Verfassungsbestimmungen vor. Die Zivil- und Verwaltungsgerichte müssen die Entscheidung des Verfassungsrates abwarten, um die bei ihnen anhängige Rechtssache entscheiden zu können.

Auch in der Hoffnung, durch den Wegfall der Rechtsgrundlage die Nichtigkeit der hierauf basierenden Entscheidungen zu erzwingen, rügten die Beschwerdeführer ferner die Unvereinbarkeit mit Art. 6 I der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Recht auf ein faires Verfahren) des der Entscheidung der Verwaltungsgerichte zugrundeliegenden Ermittlungsverfahrens (II.).

I. Antrag auf Vorlage einer Frage zum Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) zur Vorabentscheidung  (question prioritaire de constitutionalité-QPC)

Nach Meinung der Beschwerdeführer sollten die oben genannten Vorschriften des Umweltgesetzbuches die Umweltcharta (Charte de l’environnement) missachten, welche in der französischen Rechtsordnung Verfassungsrang genießt. Der Verfassungsrat darf aber nur über die Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Vorschriften entscheiden, eine Voraussetzung, die im vorliegenden Fall nicht vorlag. Denn diese Vorschriften des Umweltgesetzbuchs wurden auf der Grundlage einer vom Parlament erteilten Ermächtigung der Regierung zur Rechtsetzung erlassen. Die Regierung wird in einem solchen Fall durch sog. Ordonnanzen (ordonnances) tätig, welche anschließend einer parlamentarischen Ratifizierung nach Art. 38 der Verfassung bedürfen, um in Gesetzesrang zu erstarken. Solange diese Ratifizierung ausbleibt, sind die auf diesem Wege erlassenen Rechtsnormen als Verwaltungsakte anzusehen: für deren Verfassungsmäßigkeitsprüfung der Verfassungsrat sich nicht als zuständig sieht. Somit war der Antrag auf Verfassungsvorabentscheidungsfrage abzulehnen (Rn. 4).

Grds. ist der Verwaltungsrat selbst für die Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Verwaltungsakten zuständig. Eine solche Prüfung ist aber erst dann vorzunehmen, wenn der vor dem Verfassungsrat widersprochene Verwaltungsakt sich tatsächlich auf den (höherrangigen) Verwaltungsakt als Rechtsgrundlage stützt, dessen Verfassungsmäßigkeit von den Beschwerdeführern in Frage gestellt wird. Die in diesem Fall widersprochenen Rechtsakte (die stillschweigenden Entscheidungen der Behörde für Atomsicherheit sowie der Minister) waren aber nicht zur Durchführung der Art. L. 593-7 bis L. 593-11 des Umweltgesetzbuchs erlassen worden, welche das Erlaubnisverfahren zur Eröffnung eines AKW regeln und sind somit nach Ansicht des Verwaltungsrates nicht als Rechtsgrundlage der stillschweigenden Ablehnungsentscheidungen anzusehen. Aus diesem Grund entfalle der Bedarf nach einer Verfassungsmäßigkeitsprüfung dieser Ordonnanzen (Rn. 5). Der Verwaltungsrat rechtfertigte mit diesen Ausführungen seine Entscheidung, diese Prüfung, zu welcher er von Amts wegen berechtigt gewesen wäre (die Beschwerdeführer hatten keinen dahingehenden Antrag gestellt), nicht durchzuführen.

II. Vereinbarkeit mit Art. 6 I EMRK des von den Verwaltungsgerichten durchgeführten Ermittlungsverfahrens

Die Beschwerdeführer hatten ferner vor dem Verwaltungsrat eine Verletzung des Art. 6 I EMRK durch das Ermittlungsverfahren gerügt. Diese Verletzung liege erstens in der mangelnden Öffentlichkeit des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens und zweitens darin, dass die Beschwerdeführer nur drei Vertreter im Rahmen des Verfahrens hatten ernennen dürfen.

Der Verwaltungsrat zitiert in seinem Urteil ausführlich die einschlägigen Vorschriften des Gesetzbuches der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Code de justice administrative), Art. R. 623-1, R. 623-2 sowie R. 623-3 und stellt fest, dass diese Vorschriften die Eröffnung eines gerichtlichen Ermittlungsverfahrens dem Ermessen des entscheidenden Gerichts überlassen. Ferner sei dieses Verfahren nicht durch diese Regelungen einem Öffentlichkeitserfordernis unterworfen. Darüber hinaus sei nach Ansicht des Verwaltungsrats kein Verstoß gegen die anwendbaren Verfahrensvorschriften in dem Umstand zu sehen, dass die Vertreterzahl beider Verfahrensparteien (der Beschwerdeführer sowie der verklagten Behörden) auf drei begrenzt wurde. Somit hatte der Verwaltungsrat festgestellt, dass die entscheidenden Gerichte das einschlägige Verfahrensrecht beachtet hatten, aber noch nicht, dass diese Verfahrensvorschriften im Einklang mit der EMRK standen.

Eine Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift (Gesetz oder Verwaltungsakt)  mit Völker- oder Europarecht (darunter sind sowohl Unionsrecht als  EMRK) darf von jedem Richter der „ordentlichen“ Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgenommen werden, und der Verfassungsrat sieht sie nicht als zu seinem Aufgabenkreis gehörend. Diese Frage musste also vom Verwaltungsrat entschieden werden.

Dieser beschränkte sich aber auf die knappe Aussage, dass „in jedem Falle“ („en tout état de cause“, Rn. 7) kein Verstoß gegen Art. 6 I EMRK in den beiden eben beschriebenen Umständen zu sehen sei, ohne jedoch die detaillierte dreiteilige Prüfung „Eröffnung des Schutzbereiches – Vorliegen eines Eingriffs – Rechtfertigung“ vorzunehmen, welche von einem deutschen Juristen erwartet werden würde. Darin ist allerdings keine Besonderheit  dieser Entscheidung bzw. keine Abweichung der üblichen Rechtsprechung und der üblichen Rechtsanwendungsmethoden des Verwaltungsrats zu sehen.

B. Interne Rechtsmäßigkeit

Im Rahmen der Überprüfung des materiellen Inhalts der ihm vorgelegten Entscheidungen der beiden unteren Gerichte wurden drei Fragen entschieden: ob die von der Behörde für Atomsicherheit angewandten Untersuchungsmethoden einen genügenden Schutz der im Art. L. 593-1 Umweltgesetzbuch genannten Interessen (öffentliche Sicherheit, Gesundheit und Hygiene) gewähren (I.), ob sämtliche einzelnen Risiken von der Behörde für Atomsicherheit gebührend berücksichtigt worden waren (II.), und letztendlich ob ein Verstoß gegen Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) in der Ablehnung der Schließung des AKW Fessenheim erblickt werden kann (III.).

I. Einwände gegen die angewandte Überprüfungsmethode

Hier darf legitimer Weise die Frage gestellt werden, wie der (Verwaltungs-)Richter eine solche hochkomplexe technische Frage entscheiden soll: angeblich hat im vorliegenden Fall der Verwaltungsrat nach eindeutigen, groben  methodischen Fehlern der Behörde für Atomsicherheit gesucht. Er stellte fest, die Behörde für Atomsicherheit habe auch Extremsituationen in Betracht gezogen, sowie die Möglichkeit der gleichzeitigen Verwirklichung mehrerer Risiken (z. B. Überflutung und Erdbeben) berücksichtigt (Rn. 11).

Darüber hinaus wurde die Frage der Bindungswirkung der von dieser Behörde zum Zwecke der Konkretisierung der Sicherheitsvorgaben des Umweltgesetzbuches erlassenen „Sicherheitsgrundregeln“ („règles fondamentales de sûreté“)  auf den Betreiber eines AKW mitbeantwortet: nach Ansicht des Verwaltungsrats entfalten diese Grundregeln keine Bindungswirkung. Ihr Name soll auch aus diesem Grund demnächst zu „Leitfaden der Behörde für Atomsicherheit“ („guides de l’Autorité de sûreté nucléaire“) umgewandelt werden – eine Entwicklung, welche vom Verwaltungsrat in seinem Urteil ausdrücklich erwähnt wurde (Rn. 12). Daher seien keine gravierenden und unmittelbar bevorstehenden Gefahren in einer Abweichung von diesen Grundregeln durch den Betreiber des jeweiligen AKW zu sehen, solange der Betreiber selbst Maßnahmen gleicher Wirkung („mesures d’effet équivalent“) zur Einhaltung der (bindenden) Sicherheitsvorschriften des Umweltgesetzbuches ergriffen hatte. Damit habe die Behörde für Atomsicherheit keine ihrer Pflichten dadurch verletzt, dass sie aus dieser Abweichung nicht auf das Vorliegen gravierender und unmittelbar bevorstehender Risiken geschlossen hatte.

II. Vorliegen gravierender und unmittelbar bevorstehender Gefahren

Hätte der Verfassungsrat die Sicherheitsgrundregeln als bindende Rechtsvorschriften erklärt, hätte er sich die Möglichkeit eröffnet, in jeder Abweichung von diesen Vorgaben einen Verstoß gegen bindende Rechtsnormen zu sehen, in welchem u.U. die Schaffung eines gravierenden und unmittelbar bevorstehenden Risikos hätte gesehen werden können. Da der höchste Verwaltungsrichter sich diesen Weg gesperrt hatte, musste er eine detaillierte Prüfung der Vorgehensweise der Behörde und der Minister für jedes einzelne von den Beschwerdeführern genannte Risiko vornehmen.

Sollte allerdings die Bewertung von Atomrisiken nicht besser den Fachexperten überlassen werden? Die öffentliche Hand  hat aber im Laufe der Zeit immer mehr hochtechnische Aufgaben übernommen: sollte man die im Laufe der Erfüllung dieser Aufgaben entstehenden Rechtsstreitigkeiten den Fachleuten überlassen, würde damit zumindest der Schein einer durch die Verwaltungsgerichtbarkeit gewährleistenden öffentlichen, fairen und gerechten Justiz aufgegeben.

Der Verwaltungsrat schien sich aber der Schwierigkeiten der ihm auferlegten Aufgabe bewusst zu sein, eine derart komplexe technische Frage wie den Grad an erforderlichem Atomschutz zu entscheiden: alleine der Hinweis, dass der Betreiber eines AKW nur insofern von den Vorgaben der Behörde für Atomsicherheit abweichen darf, dass er Schutzmaßnahmen gleicher Wirkung erlässt (Rn. 12), deutet auf die Absicht des Verwaltungsrats, eine tiefgehende und detaillierte Prüfung des Vorliegens gravierender und unmittelbar bevorstehender Gefahren vorzunehmen. Darüber hinaus wird bei jeder einzelnen überprüften Gefahr auf die Formulierung „es ergibt sich aus den Ermittlungsergebnissen, dass…“ („il résulte de l’instruction que…“) zurückgegriffen: damit wollte der Verwaltungsrat deutlich zum Ausdruck bringen, dass er sich gründlich mit diesen Fragen auseinandergesetzt und sich dabei gebührend Fachinformation bei Experten eingeholt hatte.

Weder in seismischen Gefahren, noch in der Überflutungsgefahr und ebenso wenig in den unzureichenden Maßnahmen gegen besondere Risiken sowie der im Vergleich mit anderen AKW erhöhten Anzahl sah der Verwaltungsrat das gravierende und unmittelbar bevorstehende Gefahren. Oder sollte in dieser Entscheidung eine mangelnde Bereitschaft des höchsten französischen Verwaltungsrichters gesehen werden, selbst die brennende politische Frage des Ausschaltens eines AKW zu entscheiden bzw. den Willen, diese schwerwiegende Entscheidung den (französischen? europäischen?) politischen Entscheidungsträgern zu überlassen?

Die Beschwerdeführer hatten auch die Unvereinbarkeit der einschlägigen Schadstoffausstoßnormen mit Unionsrecht sowie mit dem Übereinkommen zum Schutz des Rheins vom 12. April 1999 gerügt: zwar halte sich das AKW Fessenheim an den französischen Vorgaben, diese bilden aber geringere, und somit unzulässige, Standards als die eben erwähnten internationalen Normen. In dieser Abweichung von bindenden Normen des Unions- und Völkerrechts sei aber nach dem Verwaltungsrat keine gravierende und unmittelbare Gefahr i.S.d. Art. L. 593-22 Umweltgesetzbuch zu erblicken (Rn. 18).

III. Vereinbarkeit des Fortbetriebs des AKW Fessenheim mit Art. 2 EMRK

Schließlich machten die Beschwerdeführer geltend, dass der französische Staat den Art. 2 EMRK dadurch verletze, dass er das AKW Fessenheim weiter am Netz ließ. Die weiteren Ausführungen der Beschwerdeführer zu diesem Argument werden nicht im Urteil des Verwaltungsrats wiedergegeben, allerdings kann darunter nur zu verstehen sein, dass der französischen Staat seine positive Verpflichtung aus dem Art. 2 EMRK, das Leben aller sich auf seinem Territorium befindenden Menschen zu schützen, dadurch verletze, dass er diese Menschen den durch den Betrieb des AKW verursachten gravierenden und unmittelbar bevorstehenden Gefahren aussetze. Der französische Staat müsse also, um seiner Verpflichtung aus Art. 2 EMRK nachzukommen, das AKW ausschalten.

Der Verfassungsrat war bei diesem Prüfungspunkt bereits zum Ergebnis gelangt, dass der Betrieb des AKW Fessenheim keine solche Gefahr für die im Art. L. 593-1 Umweltgesetzbuch aufgelisteten Interessen darstelle: damit könne nur folgerichtig das Argument einer Verletzung des Art. 2 EMRK verworfen werden (Rn. 20).

Rein dogmatisch sollte an dieser Stelle erneut erwähnt werden, dass nur die öffentliche Sicherheit, Gesundheit und Hygiene zu den eben erwähnten Interessen zählen: das menschliche Leben wird nicht per nominem erwähnt. Diese Interessentrilogie scheint aber die Komponente des menschlichen Lebens in seinen physischen Elementen zu erfassen: die Schutznorm des Art. L. 593-1 Umweltgesetzbuch kann also als auf den Schutz des menschlichen Lebens und nicht bloß der einzelnen physischen Bestandteile dieses Lebens abzielend, ausgelegt werden. Damit ist an der Schlussfolgerung des Verwaltungsrats nichts zu beanstanden.

Zu diesem Zeitpunkt steht noch nicht fest, ob der Trinationale Atomschutzverband noch den Weg zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) bestreiten wird. Dafür müsste eine sechsmonatige Frist ab „Kenntnisnahme“ (d.h. im vorliegenden Fall Verkündung) des Urteils des Verwaltungsrats eingehalten werden (s. Art. 35 I EMRK), welche noch nicht verstrichen ist. Jedoch ist der Webseite dieses Verbands nicht zu entnehmen, ob er ein solches Vorhaben verfolgt. Sollte der EGMR die Sache zur Entscheidung annehmen, würde damit das erste Urteil dieses Gerichtshofs zu Atomfragen ergehen, sei es unter dem Blickwinkel des Art. 2 EMRK oder eines anderen durch die Konvention und ihre Protokolle gewährleisteten Rechts.

Weiterführend:

–          Volltext des Urteils des Verfassungsrats (auf französisch): http://www.conseil-etat.fr/fr/selection-de-decisions-du-conseil-d-etat/ce-28-juin-2013-association-trinationale-de-protection-nucleaire-et-autres.html

–          Pressemitteilung zum Urteil des Verfassungsrats (auf französisch): http://www.conseil-etat.fr/node.php?articleid=2999

–          Webseite des Trinationalen Atomschutzverbands (auf deutsch): http://www.atomschutzverband.ch/