von Audrey Eugénie Schlegel, LL.M. wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Französisches Öffentliches Recht (LFOER) der Universität des Saarlandes

  • Staatsrat, Rs. 361767, am 13.06.2013, vereinigte 10. und 9. Unterabteilungen

(Conseil d’Etat, N°361767, 13.06.2013, 10ème et 9ème sous-sections réunies)

Eine der Besonderheiten Frankreichs im europäischen Vergleich besteht darin, dass es sich selbst als Einheitsstaat, als eine « unteilbare Republik » („république indivisible“) im Art. 1, Satz 1 seiner gegenwärtigen Verfassung (constitution) bezeichnet, dessen (einzige) Sprache gem. Art. 2, Satz 1 die französische sein soll („La langue de la République est le français“).

Der französische Staat hat sich im Laufe der Zeit aus den unterschiedlichsten Provinzen, mit jeweils unterschiedlichen Dialekten, gebildet. Dazu kamen später im Laufe der Kolonialisierung weitere Gebiete, von denen manche zu den heutigen Überseegebieten des französischen Staatsgebietes wurden. Vor allem in diesen Gebieten werden noch heute alltäglich lokale Sprachen und Dialekte gesprochen. Diesen regionalen Sprachen wird im Art. 75-1 der Verfassung dadurch Rechnung getragen, dass sie als  französisches Kulturerbe bezeichnet werden („Les langues régionales appartiennent au patrimoine de la France“). Diese Vorschrift wurde in die Verfassung aufgenommen, um Frankreich eine eventuelle Ratifizierung der Sprachencharta des Europarates verfassungsrechtlich zu ermöglichen, nachdem der Staatsrat in einer Stellungnahme vom 24. September 1996 (N°359-461) die Unvereinbarkeit gewisser Vorschriften der Charta mit dem Art. 2 der Verfassung als verfassungsrechtliche Hürde zu ihrer Ratifizierung bezeichnet hatte. Trotz der Verfassungsänderung mit der Aufnahme des Art. 75-1 wiederholte der Staatsrat  dieses Argument in einer Stellungnahme vom 5. März 2013.

Politisch betrachtet wird dieses Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Anerkennung unterschiedlicher regionaler Sprache nicht dadurch gelockert, dass die Forderung nach mehr Schutz und Förderung für regionale Sprachen oft mit Autonomiebestrebungen verbunden sind. Dies ist nicht zuletzt im Elsass und in der Bretagne der Fall, und Französisch-Polynesien genießt bereits einen verfassungsrechtlich anerkannten Sonderstatus (Art. 72-3 ff. der Verfassung).

In der vorliegenden Entscheidung des Staatsrates (CE) wird das Verhältnis der französischen zu den regionalen Sprachen näher gestaltet. Dabei ist zu beachten, dass sie in die Entscheidungssammlung „Recueil Lebon“ aufgenommen werden soll („ mentionné au Lebon “), auch wenn nicht vollumfänglich. Damit wird deutlich, dass der Staatsrat selbst dieser Entscheidung eine gewisse Bedeutung zumisst.

Während einer Sitzung der Abgeordnetenkammer Französisch-Polynesiens am 10. Juli 2012 wurden drei Gesetze verabschiedet:

–       Das Gesetz 2012-10 LP/APF über den Rentenstatus der Angestellten in Französisch-Polynesien sowie über denjenigen der Beitragszahler zur allgemeinen Versorgungskasse („loi du pays N° 2012-10 LP/APF portant diverses dispositions relatives au régime de retraite des travailleurs salariés de la Polynésie française et au régime de retraite de tranche B au profit des ressortissants du régime général des salariés“).

–       Das Gesetz 2012-11 LP/APF über die Altersversorgung und die Unterstützung älterer Menschen („ loi du pays n°2012-11 LP/APF portant diverses dispositions relatives à l’assurance vieillesse et à l’aide aux personnes âgées“).

–       Das Gesetz 2012-12 LP/APF zur Aufhebung bestimmter Vorschriften des Rentenstatus der Angestellten in Französisch-Polynesien („loi de pays n° 2012-12 LP/APF portant abrogation de diverses dispositions relatives au régime de retraite des travailleurs salariés de la Polynésie française“).

Während dieser Sitzung hatten sprachen der erste Vizepräsident der Kammer und Präsident der damaligen Sitzung sowie verschiedene Redner Tahitianisch.

Insgesamt wurden sieben Anträge beim Staatsrat auf Erklärung der Nichtigkeit dieser Gesetze gestellt. Der Staatsrat verband diese Verfahren miteinander. Die Antragssteller machten eine Verletzung der Pflicht zur Verwendung der französischen Sprache sowie eine Verletzung des Informationsrechts der Abgeordneten, der Vorschriften über die Zuständigkeit der Abgeordnetenkammer, des Gleichheitsgebots und des Grundrechts auf Eigentumsschutz geltend. Nur die erste gerügte Verletzung wurde vom Staatsrat bejaht. Im Folgenden werden nur dieses Argument sowie diejenigen aus der Verletzung des Gleichheitsgebots und des Grundrechts auf Eigentumsschutz erläutert. Als Gegenvorbringen machten die Regierungsvertreter geltend, einige Antragssteller seien nicht rechtsschutzbedürftig. Dieses Argument ist auch Gegenstand der nachfolgenden Analyse.

Die Entscheidung zerfällt somit in zwei Teile, Zulässigkeit (A.) und Begründetheit (B.).

       A.    Zulässigkeit

Zur Geltendmachung der Nichtigkeit eines von der Abgeordnetenversammlung Französisch-Polynesiens verabschiedeten Gesetzes gelten besondere Verfahrensvorschriften. Der Staatsrat ist in erster und letzter Instanz zuständig, eine Ausnahme von der Zuständigkeit des Verfassungsrates („ Conseil Constitutionnel“) für die Normenkontrolle von Gesetzen (der Staatsrat ist grds. nur für die Normenkontrolle von Verwaltungsakten zuständig). Ferner müssen die Antragssteller ihr Rechtsschutzbedürfnis nachweisen.

Im vorliegenden Fall hatte einer der Antragssteller seinen Anspruch auf vorgezogene  Entlassung in den Ruhestand bereits  verloren. Damit verfügte er nach Ansicht der Regierung nicht mehr über ein berechtigtes Interesse an der gerichtlichen Geltendmachung der Nichtigkeit der betroffenen Gesetze. Laut dem Staatsrat sei diesem Antragsteller als Angestellter und Rentenbeitragszahler ein solches berechtigtes Interesse aber nicht abzuerkennen.

Somit sei der Zulässigkeitseinwand unbegründet, der Antrag also zulässig.

     B.    Begründetheit

Zunächst bejaht der Staatsrat die Verletzung der Pflicht zur Verwendung der französischen Sprache (I.), verwirft jedoch den Einwand der Verletzung des Gleichheitsgebots (II.)

       I.               Pflicht zur Verwendung der französischen Sprache

Der Staatsrat stützt seine Argumentation auf Art. 57 des staatsorganisatorischen Gesetzes vom 27. Februar 2004 (loi organique), welches den Autonomiestatus Französisch-Polynesiens regelt (1.). Allerdings verpflichtet dieses Gesetz nicht unmittelbar die Volksvertreter der Abgeordnetenkammer zur Verwendung der französischen Sprache während der Debatten: eine solche Pflicht ergibt sich erst aus einer richterlichen Rechtsfortbildung (2.).

         1.     Art. 57 des staatsorganisatorischen Gesetzes des 27. Februar 2004

Staatsorganisatorische Gesetze wie das vom 27. Februar 2004 sind von der Verfassung selbst vorgesehen, allerdings vom Parlament im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unter systematischer Überprüfung durch den Verfassungsrat (zu) erlassen. Sie regeln die Beziehungen der Organe bzw. Institutionen des französischen Staates zueinander.

Seinem Wortlaut nach verpflichtet Art. 57 Satz 2 dieses staatsorganisatorischen Gesetzes die juristischen Personen des öffentlichen Rechts sowie die juristischen Personen des Privatrechts bei der Durchführung öffentlich-rechtlicher Aufträge und die Bürger in ihren Beziehungen zu den Behörden und sonstigen Träger öffentlich-rechtlicher Aufgaben zur Verwendung der französischen Sprache. Diese ist laut Art. 57 Satz 1 die Amtssprache Französisch-Polynesiens („le francais est la langue officielle de la Polynésie francaise“).

Nach Ansicht des Staatsrates steht diese Vorschrift der Verwendung einer anderen Sprache durch die Volksvertreter in der Abgeordnetenkammer entgegen.

        2.     Rechtsfortbildung durch den Staatsrat

Diese zählen allerdings nach dem Wortlaut des Art. 57 nicht unmittelbar zu dem Adressaten dieser Vorschrift. Der Staatsrat macht hier von einer seiner üblichen Auslegungsmethoden Gebrauch, der teleologischen Auslegung, d.h. dem Rückgriff auf Sinn und Zweck der Norm. Diese Methode ist mit dem deutschen Auslegungskanon der Beachtung des Willens des Gesetzgebers vergleichbar.

Nach dem Staatsrat bestehen Sinn und Zweck des Art. 57 in der Ermöglichung  der Normenkontrolle, der Kenntnisnahme durch die Bürger der Gesetzesbegründungen und deren Tragweite sowie der Bürgerbeteiligung am demokratischen Gesetzgebungsverfahren (Rn. 5). Alle drei werden durch die Verwendung einer anderen Sprache als französisch gehindert. Somit könnte Art. 57 auch eine Pflicht der Volksvertreter in der Abgeordnetenkammer Französisch-Polynesiens zur Verwendung der französischen Sprache entnommen werden.

Diese Pflicht sei durch die Verwendung der tahitianischen Sprache während der Debatten der Abgeordnetenkammer verletzt worden. Die Verletzung dieser Pflicht führe zur Nichtigkeit der betroffenen Gesetze.

    II.             Gleichheitsgebot

Auch wenn der Staatsrat hierfür keine Rechtsgrundlage ausdrücklich zitiert (1.), überprüft er auch die Rechtsmäßigkeit eines der ihm vorgelegten Gesetze am Maßstab des Gleichheitsgebots („principe d’égalité“) (2.).

        1.     Rechtsgrundlage des Gleichheitsgebots

Der Staatsrat beginnt sofort mit der Prüfung einer eventuellen Verletzung des Gleichheitsgebots, ohne auf eine Rechtsgrundlage hierfür einzugehen.

Dieses Gebot ist aber in vielen nationalen und internationalen Menschenrechtserklärungen niedergeschrieben. Hierfür können etwa Art. 6 der Bürger- und Menschenrechtserklärung vom Jahre 1789 sowie der Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) genannt werden: beide Normen kommen als Prüfungsmaßstab für den Staatsrat in Betracht. Das Gleichheitsgebot wurde aber auch vom Staatsrat als allgemeines Rechtsprinzip (principe général du droit) in seiner Société des concerts du conservatoire– Entscheidung vom 9. März 1951 anerkannt, unabhängig von jeder höherrangigen Rechtsnorm.

Somit sieht sich der Staatsrat dazu berechtigt, Rechtsakte am Maßstab dieses Gebots ohne Berufung auf eine konkrete (höherrangige) Rechtsnorm zu prüfen. Im vorliegenden Fall beginnt die Prüfung unmittelbar mit der Feststellung, dass das Gleichheitsprinzip nicht gebietet, dass unterschiedliche Situationen Gegenstand einer unterschiedlichen Behandlung werden. Dieser Feststellung kann entnommen werden, dass die Beschwerdeführer eine Verletzung des Gleichheitsgebots durch eine gleiche Behandlung ungleicher Situationen gerügt hatten.

        2.     Die Anforderungen des Gleichheitsgebots

Mit dem Gesetz 2012-11 hatte die Abgeordnetenkammer die Rentenansprüche unter denselben Voraussetzungen wie die Lohnansprüche für pfändbar und übertragbar erklärt: darin bestehe nach den Beschwerdeführer eine unzulässige Gleichbehandlung ungleichbarer Situationen.

Der Staatsrat führt aber hier keine systematische Prüfung einer eventuellen Verletzung des Gleichheitsgebots nach dem den deutschen Juristen bekannten Prüfungsschema durch, vor allem wird nicht an das Vorliegen gleicher oder unterschiedlicher Sachlagen als Ausgangspunkt angeknüpft. Stattdessen prüft der Staatsrat die für die Pfändung und Übertragung sowohl der Lohn- als auch der Rentenansprüche geltenden Voraussetzungen. Er stellt fest, dass die durch diese Voraussetzungen gewährleisteten Garantien, vor allem die richterliche Überprüfung der Pfändung und Übertragung, einer Verletzung des Gleichheitsgebots entgegenstehen.

Hieraus könnte geschlossen werden, dass der Staatsrat in dieser Konstellation eine Gleichbehandlung (Pfändbarkeit und Übertragbarkeit) gleicher Situationen (Lohn- und Rentenansprüche) erblickt. Dagegen spricht aber, dass er die sich aus dem Gleichheitsgebot ergebenden Erfordernisse an die Behandlung ungleicher Situationen erläutert hat. Es darf also davon ausgegangen werden, dass der Staatsrat vorliegend von ungleichen Situationen ausging. Es ist also davon auszugehen, dass dem Staatsrat zufolge die Gleichbehandlung ungleicher Situationen hinsichtlich des Gleichheitsgebots nur dann zulässig ist, wenn ähnliche Garantien für beide Fälle gewährleistet sind.

Somit verneinte der Staatsrat eine Verletzung des Gleichheitsgebots.

    III.           Eigentumsschutz

Der Staatsrat prüft zuletzt die Vereinbarkeit der ihm vorgelegten Vorschriften mit den Erfordernissen des Eigentumsschutzes. Diese ergeben sich aus dem Art. 1 des ersten Protokolls zur EMRK, der Staatsrat nimmt also eine Kontrolle der Konventionsmäßigkeit der betroffenen Vorschriften vor (1.). Diese Kontrolle unterscheidet sich aber in wesentlichen Punkten von der des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und den von den deutschen Gerichten hierzu verwendeten Prüfungsschemata (2.).

    1.     Die Konventionsmäßigkeitsprüfung

Der Staatsrat sieht die Rechtsgrundlage des Eigentumsschutzes in Art. 1 des ersten Protokolls zur EMRK. Somit unternimmt er keine Verfassungsmäßigkeitskontrolle der betroffenen Vorschriften, sondern eine sog. Konventionsmäßigkeitskontrolle (contrôle de conventionnalité). Dabei werden nationale Rechtsnormen (bis auf die Verfassung) auf ihre Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen bzw. europarechtlichen Normen hin überprüft. Da im Bereich des Menschenrechtschutzes internationale und nationale Normen sich öfters als inhaltsgleich erweisen, soll sich die Kontrolle der Konventionsmäßigkeit nicht im Wesentlichen von derjenigen der Verfassungsmäßigkeit unterscheiden.

Der Verfassungsrat seinerseits stützt den Eigentumsschutz auf verfassungsrechtliche Normen, nämlich die Art. 2 und 17 der Erklärung von 1789. Durch die Inhaltsgleichheit der Konventions- und Verfassungsmäßigkeitskontrollen wird also vermieden, dass eine Rechtschutzlücke durch die mangelnde Zuständigkeit des Verfassungsrats für die Normenkontrolle der Gesetze Französisch-Polynesiens entsteht.

    2.     Prüfung durch den Staatsrat

Ein Eingriff in das Recht auf Eigentumsschutz ist im vorliegenden Fall in der Pfändbarkeit der Rentenansprüche zu sehen (der Staatsrat kennt aber kein Äquivalent zum deutschen Begriff des „Eingriffs“). Nach Ansicht des Staatsrats dient die Pfändbarkeit der Rentenansprüche dem Schutz der Rechte sowie des Vermögens des Gläubigers einerseits  und der Interessen sowie des Existenzminimums des Schuldners andererseits: Sie dient also (nach dem klassischen deutschen Prüfungsschema) einem legitimen Zweck.

Dabei soll darauf hingewiesen sein, dass die somit identifizierten Interessen des Schuldners sowie des Gläubigers als „Eigentum“ qualifiziert werden können. Beim Gläubiger ist sogar ausdrücklich die Rede von seinen Vermögens- bzw. Eigentumsrechten („droits patrimoniaux“). Diese widerstreitenden Belange fallen also in den Anwendungsbereich des Rechts auf Eigentumsschutz und sind somit nicht nur gleichrangig, sondern auch gleichartig. Weder der Staatsrat noch der Gesetzgeber verfügen also über ein absolutes, maßgebendes Kriterium, um über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu entscheiden. Dies wird vom Staatsrat insofern zum Ausdruck gebracht, dass er seine Kontrolle ausdrücklich auf die Überprüfung des „Ausgleiches“ (équilibre) zwischen diesen widerstreitenden Interessen beschränkt.

Es soll also festgestellt werden, ob der Interessenausgleich verhältnismäßig ist. Bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung beschränkt sich aber der Staatsrat auf die unbestimmte Aussage, dass das ihm vorgelegte Gesetz zwischen den entgegengesetzten Interessen einen Ausgleich schafft, der nicht unverhältnismäßig ist.

Somit wird eine Verletzung des Rechts auf Eigentumsschutz aus Art. 1 des ersten Protokolls zur EMRK verneint.

Abgesehen von der Verletzung der Pflicht zur Verwendung der französischen Sprache, welche zur Nichtigkeit der Gesetzes Nr 2012-10 und 2012-12 führt, gab es also an den vorgelegten Gesetzen nichts zu beanstanden.

Weiterführend:

–       Volltext des Urteils: http://www.conseil-etat.fr/fr/selection-de-decisions-du-conseil-d-etat/mme-c-et-autres.html

–       Der Text der beiden Stellungnahmen des Staatsrats zur Vereinbarkeit der Verfassung mit der europäischen Sprachencharta ist leider zur Zeit nicht online verfügbar.